Aus dem Vorwort:
Ästhetisch-aisthetische Erziehung – diese Wortprägung soll eine Zweigleisigkeit verdeutlichen. Dies meint zum einen ästhetische Erziehung und bezieht sich insofern auf die Künste, insbesondere auf die Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung. Zum anderen bedarf die ästhetische Erziehung der Ergänzung durch die aisthetische Erziehung, d. h. durch die sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis. Die in der ästhetisch-aisthetischen Erziehung liegende Fokussierung auf die Künste als Ernstfall (Adorno) und der vor allem von A. G. Baumgarten, dem Gründungsvater der neuzeitlichen Ästhetik, konstatierte Erkenntnischarakter der sinnlichen Wahrnehmung, den bereits Aristoteles erkannt hatte, implizieren zugleich eine Wendung gegen die musische Bildung, die die Künste als Spielball betrachtet und die Erkenntniskraft der aisthesis erst gar nicht zur Kenntnis nimmt und so dazu beiträgt, daß das Befassen mit den Künsten und der sinnlichen Wahrnehmung zu einer Alibiveranstaltung verkommt, deren wesentliches Charakteristikum in der Funktion als entlastendes und kompensatorisches Gegengewicht zu den sog. Lernfächern gesehen wird. Dabei wird verkannt, daß zwischen den ästhetischen Fächern einerseits und den nichtästhetischen Fächern andererseits keine Demarkationslinien gezogen werden dürfen, ebenso wenig wie zwischen den Künsten und den Sinnen einerseits und der Vernunft und der Erkenntnis andererseits. Künste, sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis gehören untrennbar zusammen. Die rational-logische Erkenntnis bedarf der Ergänzung durch die ästhetisch-aisthetische Erkenntnis.
Zunehmend bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die Erkenntnisfunktion der sinnlichen Wahrnehmung und der Beschäftigung mit den Künsten das Herz der ästhetisch-aisthetischen Erziehung darstellt. So wie die erkenntnismäßigen Potentiale die Ästhetik zu einer Basisdisziplin der Philosophie machen. Ich halte es deshalb im Kontext der ästhetisch-aisthetischen Erziehung für unverzichtbar, sich nicht nur mit den klassischen ästhetischen Theorien (vor allem Baumgarten und Kant und in seiner Nachfolge Schiller) sowie den Ästhetiken des 20. Jahrhunderts (Dewey,Cassirer,Langer,Adorno,Goodman) zu befassen, sondern auch mit der neuesten ästhetischen Literatur der achtziger und neunziger Jahre (ich nenne in erster Linie Martin Seel, Wolfgang Welsch und Gernot Böhme).
So wie ich die Erkenntnisfunktion für den Testfall des Ästhetischen und der ästhetisch-aisthetischen Erziehung halte, so stellen für mich die Naturwissenschaften und die naturwissenschaftsbezogenen Fächer das entscheidende Anwendungsgebiet der aioOTOl, der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis, und darüber hinaus der aisthetischen Erziehung dar. Für die naturwissenschaftsbezogenen Passagen dieser Arbeit habe ich aus Gesprächen mit meiner Tochter Jana (Oxford) gelernt, auch wenn sie als angehende exakte und kritische Naturwissenschaftlerin (bislang: M. Sc. [Physics], University of St. Andrews;M. Sc. [Environmental Sciences], University of Wales, derzeit Doktorandin) mit meinen hieraus in bezug auf das Ästhetisch-Aisthetische gezogenen Schlußfolgerungen wahrscheinlich nicht allzu viel anfangen kann.
Die vorliegende Abhandlung, vor zwei Jahren erschienen, war schnell vergriffen. Ich habe mich zu einem zwar durchgesehenen, aber im Übrigen unveränderten Nachdruck entschieden. Titel und Untertitel habe ich verändert sowie die Veröffentlichung in eine neue Reihe übernommen, in deren Kontext sie besser paßt. Leider war es mir nicht möglich, die Literatur nachzutragen. Ich hoffe, dies im Zusammenhang mit einer vollständigen Neubearbeitung nachholen zu können.
Meike Aissen-Crewett