Aus dem Editorial:
Ungebändigte Popularisierung kann der Wissenschaft zur Hölle werden. Ideen und Begriffe – einmal in die Welt entlassen – mögen zu Gerüchten mutieren. Ihr Wahrheitswert, der mit der Zeit immer fragwürdiger zu werden droht, befindet sich im umgekehrten Verhältnis zu deren kontinuierlich wachsender, gesellschaftlicher Akzeptanz. Der Titel der diesjährigen Ausgabe von PaRDeS führt mit dem sich hierbei anbietenden Augenzwinkern den Turn-Begriff an, einen dieser Termini, die, nachdem sie der Wissenschaft entzogenen worden sind, einen Kultstatus erlangen. Damit erscheint auf der langen Liste von Turns in den Geisteswissenschaften neben u. a. Linguistic, Cultural, Pictorial, Spatial, Sensual, Performative und Semiotic ein Geographical Turn.
Unter dem Turn-Begriff versteht man das Aufkommen eines neuen Paradigmas, wodurch das bis dahin Unsichtbare wahrnehmbar wird und nach systematischer Thematisierung verlangt. Mit dem Unsichtbaren ist im Fall von Geographical Turn die Wissenschaft vom Judentum jenseits der östlichen Grenze Deutschlands gemeint. Bewusst wird hier das deutsche Pendant zum englischen Terminus vermieden, weil damit die Prozesse der Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung innerhalb der internationalen Forschungsgemeinschaft thematisiert werden sollen. In der Absicht, die mentale Landkarte der Wissenschaft vom Judentum mit deren zwei Zentren, Israel und den USA, hierzulande zu vervollständigen, richtet sich somit der Blick gen Osten, wo Neues im Bereich der Jüdischen Studien geleistet wird, und aber diesseits der Grenze unberechtigt wenig Aufmerksamkeit erfährt.
In der hier präsentierten Textauswahl von Autoren aus Rumänien, Litauen, Polen, Tschechien und der Slowakei widerspiegelt sich die aktuelle Forschung zur jüdischen Religion und Kultur in Ostmitteleuropa: Die Unterschiedlichkeit der aufgegriffenen Themen und Fragestellungen sowie die Weitläufigkeit der behandelten geografischen und zeitlichen Räume, zeigen, wie vielfältig interessiert und breit angesetzt sie ausfällt.